Seelenstriptease

Die Inthronisierung des Ungefährs

Kaltenbach faltete die Zeitung zusammen, legte sie auf den Küchentisch, strich mit der flachen Hand darüber, einmal, zweimal. Haberkorn stand am Herd, rührte in etwas, das nach Eintopf aussah.
»Die Schwere zwischen den Jahren«, sagte Kaltenbach. »Hörst du das, Haberkorn? Die Schwere. Zwischen den Jahren
Haberkorn rührte.
»Und was hat sie bewirkt, diese Schwere? Sie hat bewirkt, dass jemand seinen Bauchnabel fotografiert und ins Schaufenster gestellt hat. Metaphorisch gesprochen. Obwohl ich mir bei manchen nicht sicher bin, ob sie den Unterschied kennen.« Er schob die Zeitung von sich weg, zog sie wieder heran. »Innere Unordnung, Haberkorn. Kein Drama, sagt sie, nein, nur Gedanken und Gefühle, die sich nicht sofort sortieren ließen. Sofort. Als wäre Sortieren eine Frage der Geschwindigkeit. Als wäre Denken ein Lieferdienst.«
Haberkorn hob den Löffel, betrachtete ihn, senkte ihn wieder.
»Und dann, Haberkorn, dann kommt der Satz. Der Satz, bei dem mir die Galle hochkommt. Mein eigenes Warum noch einmal ganz bewusst erspürt. Erspürt. Nicht gedacht. Nicht begriffen. Erspürt. Als wäre Erkenntnis ein Wellness-Wochenende.«
Er stand auf, ging zum Fenster, die Hände auf dem Rücken.
»Verstehen statt bewerten, sagt sie. Zuhören, ohne Schlüsse zu ziehen. Bedürfnisse wahrnehmen, ohne etwas auflösen zu müssen. Weißt du, was das ist, Haberkorn? Das ist die Kapitulationserklärung des Denkens. Das ist der weiße Lappen vor dem Anspruch, irgendetwas zu begreifen.« Draußen fuhr ein Auto vorbei. Kaltenbach wartete, bis es still war. »Diese Leute, Haberkorn, diese Seelenstriptease-Artisten, diese öffentlichen Selbstbetaster, die verwechseln Introspektion mit Exhibitionismus. Die glauben, weil sie ihr Innerstes nach außen stülpen, hätten sie etwas verstanden. Dabei haben sie nur ihren Darm gewendet und halten ihn für Philosophie.«
Er drehte sich um.
»Das Warum hinter dem Verhalten erkennen. Haberkorn, das ist keine Erkenntnis. Das ist Psychologie für Anfänger. Das ist der erste Satz, nicht der letzte. Und diese Frau tut so, als hätte sie die Bundeslade gefunden.«
Haberkorn stellte den Herd ab.
»Und das Schlimmste, Haberkorn, das eigentlich Unerträgliche: Sie schreibt. Sie schreibt, um Bewusstsein, Mitgefühl und innere Klarheit zu fördern. Nicht um zu denken. Nicht um zu streiten. Nicht um etwas zu wissen, das vorher nicht gewusst wurde. Nein. Um innere Klarheit zu fördern. Als wäre Sprache ein Räucherstäbchen.«
Er setzte sich wieder, schwer.
»Mehr ist es im Moment nicht. Und das reicht gerade vollkommen. Haberkorn. Dieser Satz. Dieser Satz ist das ganze Elend in einem Fingerhut. Die Abdankung des Anspruchs. Die Inthronisierung des Ungefährs. Mehr ist es nicht. Und es reicht. Es reicht. Wenn du nicht mehr verlangst als das, was da ist, dann reicht natürlich alles. Dann reicht auch eine Pfütze als Ozean.«
Haberkorn stellte zwei Teller auf den Tisch.
»Eintopf.«
Kaltenbach sah auf den Teller. Dann auf Haberkorn. Dann wieder auf den Teller. »Ich frage mich«, sagte er, leiser jetzt, »ob diese Leute ahnen, was sie anrichten. Mit diesem Gefühlsgatsch. Mit diesem Ich bin bei mir. Als wäre Bei-sich-Sein eine Leistung und nicht der Ausgangspunkt.« Er nahm den Löffel. »Bei sich sein. Haberkorn. Ich bin auch bei mir. Jeden verdammten Tag. Das ist kein Verdienst. Das ist Topologie.« Er aß einen Löffel. »Gut, der Eintopf.« Haberkorn setzte sich.
Kaltenbach aß, die Zeitung neben dem Teller, halb verdeckt vom Brot, das Haberkorn hingelegt hatte, ohne gefragt zu werden. Draußen wurde es dunkel. Früh, um diese Jahreszeit. Zwischen den Jahren.
Kaltenbach löffelte. Sagte nichts mehr.
Aber man sah, dass er noch nicht fertig war.

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