Feinstaub

Ein Impuls

Kaltenbach saß an der Theke, als der Mann hereinkam. Anzug, kein Schlips, das Jackett offen. Start-up oder Agentur. Einer von diesen. Man sieht es am Gang. An der Art, wie sie einen Raum betreten, als gehörte er ihnen. Als wartete jemand auf sie. Der Mann bestellte einen Gin Tonic, dann zog er sein Handy und begann zu tippen. Die Lippen bewegten sich beim Schreiben. Manche Menschen lesen sich selbst vor, was sie tippen. Kaltenbach hatte das nie verstanden. Wer sich selbst vorlesen muss, traut seinem eigenen Denken nicht. Oder er hat keines.
Es war der 30. Dezember. Morgen würde es krachen. Überall. Kaltenbach freute sich darauf. Er freute sich jedes Jahr darauf. Nicht auf die Raketen. Auf die Gesichter derer, die sich über die Raketen aufregten.

Fertig, sagte der Mann zu seinem Handy. Dann zu niemandem: Das wird viral.

Viral. Kaltenbach drehte das Wort in seinem Kopf. Virus. Lateinisch. Das Schleimige. Das Gift. Dass die Leute ihre eigenen Ergüsse mit Krankheitserregern vergleichen und das für ein Kompliment halten. Aber so ist das heute. Reichweite statt Richtigkeit. Ansteckung statt Argument.
Der Mann schaute auf. Sah Kaltenbach im Spiegel. Lächelte. Das Lächeln von jemandem, der gewohnt ist, dass man ihn anlächelt. Das Lächeln, das erwartet wird, bevor es verdient ist. Kaltenbach lächelte nicht zurück.

Silvester-Post, sagte der Mann. Über Feuerwerk. Muss man ja mal sagen.

Muss man. Natürlich muss man. Man muss immer. Man ist gezwungen. Eine höhere Macht zwingt einen, seine Meinung auf LinkedIn zu veröffentlichen. Die moralische Pflicht, andere zu belehren. Die Last des Wissenden.
Die Umwelt, sagte der Mann. Die Tiere. Die vulnerablen Gruppen. Er zählte an den Fingern. Drei Finger. Drei Argumente. Das ist doch nicht mehr zeitgemäß, das private Böllern.
Vulnerabel. Da war es. Das Wort. Kaltenbach rollte es auf der Zunge, ohne es auszusprechen. Vulnerare. Verwunden. Die Verwundbaren. Aber wer verwundet hier wen? Der Böller den Hund oder der Besserwisser den Nachbarn? Und seit wann zählt man die Tiere vor den Menschen? Umwelt, Tiere, Mitmenschen. In dieser Reihenfolge. Als wären die Mitmenschen ein Nachgedanke. Ein Appendix der Schöpfung. Erst der Feinstaub, dann der Vogel, dann, fast vergessen, der Mensch.
Feinstaub. 5.000 Prozent über dem Grenzwert. Die Zahl klang groß. Sie sollte groß klingen. Aber über welchem Grenzwert? Dem Tagesgrenzwert. Einem Durchschnitt. Berechnet für 365 Tage. Die Silvesternacht ist eine Nacht. Eine. Wer heute nichts isst und morgen doppelt, hat die Tagesration nicht überschritten. Er hat sie verteilt. Aber das verlinkt keiner. Das passt nicht in den Impuls.
Impuls. Wieder so ein Wort. Impellere. Stoßen. Hineinstoßen. Der Impuls stößt. Er fragt nicht. Er teilt mit. Er verkleidet sich nur als Frage. Am Ende dieser Posts steht immer eine Frage. Was denkt ihr? Wie macht ihr das? Welche Modelle funktionieren bei euch? Aber das sind keine Fragen. Das sind Aufforderungen zur Zustimmung. Wer antwortet, hat bereits kapituliert. Er diskutiert im Rahmen, den der andere gesetzt hat. Über Modelle. Über Alternativen. Über das Wie. Nie über das Ob.
Der Mann redete weiter. Kaltenbach hörte nicht mehr zu. Er sah nur noch die Lippen, die sich bewegten. Die Hände, die Gesten machten. Die Augen, die Zustimmung suchten und keine fanden.

Rücksicht, sagte der Mann irgendwann. Rücksicht auf die anderen.

Rücksicht. Ruocsicht. Das Zurückschauen. Auf wen? Auf die, die hinter einem stehen. Die Schwächeren. Die Langsameren. Die Empfindlicheren. Aber wer bestimmt, wer empfindlich ist? Wer entscheidet, wer geschützt werden muss? Der Mann am Gin Tonic? Mit seinem Impuls? Hat er mal einen gefragt? Einen Vulnerablen? Ob der geschützt werden will? Von ihm?
Natürlich nicht. Man spricht für. Nie mit. Man schützt vor. Nie fragt man, wovor eigentlich. Die vulnerable Gruppe ist abstrakt. Ein Argument. Kein Gegenüber. Keine Adresse. Keine Stimme. Nur ein Platzhalter für das eigene Gewissen.
Der Mann stand auf. Griff nach seinem Jackett. Sagte etwas von unterschiedlichen Meinungen. Von Diskurs. Von Respekt.
Respekt. Respectare. Zurückschauen. Schon wieder das Zurückschauen. Aber diese Leute schauen nicht zurück. Sie schauen nach vorn. Auf ihre Reichweite. Auf ihre Likes. Auf das Virale.

Die Tür fiel zu.

Haberkorn stellte ein neues Glas vor Kaltenbach. Ungefragt. Er kannte Kaltenbach. Alle Barkeeper kannten Kaltenbach irgendwann. Aber Haberkorn kannte ihn länger. Haberkorn sagte nichts. Das war das Gute an Haberkorn.
Kaltenbach trank langsam. Draußen wurde es dunkel. Irgendwo knallte etwas. Zu früh. Immer knallte es zu früh. Die Ungeduldigen. Die, die nicht warten können. Die, die schon am 30. anfangen, weil der 31. zu weit weg ist.
Er dachte an den Zettel, den er morgen schreiben würde. IMPULS, RHETORIK DES. Er sah ihn vor sich. Die Definition: Pseudowort für Meinung. Wird verwendet, wenn der Sprecher seine Meinung für zu wichtig hält, um sie Meinung zu nennen, aber zu feige ist, sie Forderung zu nennen. Die Etymologie. Die Anmerkung. Die Querverbindungen. Mindestens drei. Vielleicht vier.

Das Glas war leer. Haberkorn stellte ein neues hin. Fragte nichts.

Kaltenbach sah in den Spiegel hinter den Flaschen. Sah sich selbst. Alt genug für ein Lebenswerk. Zu alt, um sich zu ändern. Allein an einer Theke am 30. Dezember, während draußen einer seinen Impuls viral gehen lassen wollte.

Er trank.

Morgen würde es krachen. Überall. Die Empörten würden ihre Posts schreiben. Die Vulnerablen würden nicht gefragt werden. Die Tiere würden vor den Menschen kommen. Die Modelle würden diskutiert werden. Kaltenbach würde am Fenster stehen. Ein Glas in der Hand. Er würde zusehen. Er würde nichts posten.

Er würde den Rauch ansehen.

Feinstaub, würde er denken.

Dann würde er lächeln. Fast.

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