Ein Befund

Kaltenbach öffnete die Mail. Er kannte den Absender nicht. Er hatte nichts bestellt. Kein Abonnement, keine Liste, kein Newsletter. Trotzdem war sie da. Jemand hatte beschlossen, dass Kaltenbach wissen musste, was dieser Jemand dachte. Oder was dieser Jemand glaubte zu denken.
Bevor das Jahr zu Ende geht, stand da. Bevor das Jahr zu Ende geht. Als wäre das ein Anlass. Als wäre das eine Einladung. Als würde das Jahr auf die Gedanken dieses Menschen warten, bevor es sich verabschieden darf. Darunter Links. So nannten sie das. Meinten aber Verweise. Verweise auf etwas, das nicht im eigentlichen Text steht. Hypertext. Die Hamburger sagten damals: durch Texte hypern. Oder so ähnlich. Kaltenbach erinnerte sich nicht mehr genau. Mitte der Neunziger. Netzkunst. Also Links. Blaue Unterstreichungen. Podcasts. Zeitschriften. Empfehlungen für die, denen die eigene Meinung nicht reicht.
Kaltenbach öffnete einen Link. Er wusste nicht warum. Er öffnete und hörte. Eine Stunde. Zwei. Die Stimmen redeten über Rüstung und Diplomatie und Eskalationsdominanz. Fachbegriffe. Saubere Sätze. Er hasste sich dafür, dass er zuhörte. Er hörte trotzdem.
Dann schob er den Laptop weg.
Podcast, sagte er. Pod und cast. Broadcast. Rundfunk. Aber ohne Funk. Ohne Sender. Ohne Reichweite. Stubenrundfunk. Für die Stube, aus der Stube. Ätherschwätzer ohne Äther.
Er schwieg.
Die Stubenrundfunker, sagte er dann. Die sind in Ordnung. Bundeswehr-Universität, ECFR, Landesverteidigungsakademie Wien. Die haben Schreibtische in Institutionen, die es gibt. Die haben Stellen, die jemand bezahlt. Die reden über Ostflanke und meinen Ostflanke, nicht ihre Befindlichkeit. Das Problem ist der Stubenhocker, der das teilt. Dem reicht das Staatsfernsehen nicht mehr. Dem reicht das Privatfernsehen nicht mehr. Der braucht jetzt die Experten, die unabhängigen, die echten. Irgendwann muss das angefangen haben. Vielleicht als die Angst an einem Virus zu verrecken das kleine Herz ergriff und der Mainstream plötzlich nicht mehr vertrauenswürdig war.
Der schreibt: Ich abonniere seit längerem. Seit längerem. Aber wieso jetzt. Wieso dieser Krieg. Ist nicht ständig Krieg. Gegen die Entrechteten. Gegen die Armen. Gegen die Natur. Die Ressourcen. Das unwerte Leben gegen das werte. Es ist immer Krieg. Aber der wacht erst auf, wenn einer kommt, der ihn treffen könnte. Die anderen Kriege töten die anderen. Die Überflüssigen. Die, die keine Links teilen. Jetzt will der dabei sein. Will am Tisch sitzen, wo die Erwachsenen reden. Gressel analysiert, und der nickt. Masala erklärt, und der versteht. Davies ordnet ein, und der fühlt sich eingeordnet. Mitgemeint. Zugehörig. Ist er nicht. Der sitzt irgendwo und hört zu und glaubt, das macht ihn zum Geopolitiker. Macht es nicht. Das macht ihn zum Hörer. Zum Leser. Zum Konsumenten von Gedanken, die andere hatten. Wie damals, als es den Volksempfänger gab. Da saßen sie auch und hörten und nickten und fühlten sich informiert.
Wohlstandsverwahrlosung, schreibt der. Schreibt der. Als hätte der das Wort erfunden. Als wäre das seine Analyse. Das ist Masalas Wort. Das ist geliehen. Alles geliehen. Die Gedanken geliehen, die Empörung geliehen, die Haltung geliehen.
Aber was wird da eigentlich verteidigt. Das fragt keiner. Das Abendland. Die Werte. Welche Werte. Wessen Werte. Und worauf steht das. Auf welchem Fundament. Auf welcher Vernunft. Auf welchem Kant, auf welchem Locke, auf welchem Hobbes. Oder auf gar keinem. Auf einem Gefühl, das sich für Denken hält. Wenn schon Atlantiker. Wenn schon Aufrüstung. Wenn schon Stärke. Wohin führt das. Wer führt da wen. Führt Amerika, und wir folgen. Oder sollen wir führen. Soll Europa wieder mitspielen. Am großen Tisch. Mit eigenen Karten. Als Deutscher muss man sich noch zurückhalten. Aber als Europäer. Das ist unverdächtig. Das klingt nach Aufklärung. Nach Humanismus. Wir bringen das Heil in die Welt. Die Menschenrechte. Den Rechtsstaat. Ausbeuten, das tun die anderen. Wir haben den Kolonialismus hinter uns gelassen. Denkt der. Glaubt der. Der Kolonialismus ist nicht hinter uns. Der Kolonialismus hat nur die Uniform gewechselt.
Das hat der nicht zu Ende gedacht. Das denkt der nicht zu Ende. Der hört Verteidigung und fühlt sich sicher. Der hört Westen und fühlt sich gemeint.
Und wer stirbt da gerade. Während der seine Podcasts hört. Während der seine Monatszeitschrift liest. Zwanzigjährige. Dreißigjährige. In Schützengräben, die aussehen wie 1916. Für was. Für wessen Deal. Damit Moskau seine Grenzen behält oder damit Moskau sie verschiebt. Damit Washington seine Ordnung behält oder damit Brüssel eine eigene bekommt. Damit irgendwer irgendwas behält, was die da unten im Dreck nie hatten. Die verbluten für Abstrakta. Die verbluten für Begriffe, die in Thinktanks entstehen und in Schützengräben enden. Für Einflusssphären. Für Pufferzonen. Für das, was Leute in beheizten Büros Sicherheitsarchitektur nennen.
Der weiß das. Der weiß das und teilt trotzdem Links.
Es ist ja auch bequem. Es ist ja auch praktisch. Andere sterben lassen. Für die eigene Sicherheit. Für den eigenen Vorgarten. Für die Gewissheit, dass der Russe nicht morgen vor der Tür steht und die Frau holt und das Auto und den Thermomix.
Das kennen wir. Das hatten wir schon. Der Russe vor den Toren. Der Mongole. Der Asiate. Die gelbe Gefahr. Immer kommt einer von Osten und bedroht das Eigenheim. Adenauer wusste das. Goebbels wusste das. Die Plakate sahen anders aus, die Angst war dieselbe. Jetzt sitzt der am Rechner und teilt Podcasts und fühlt sich auf der richtigen Seite. Weil der die richtigen Ängste hat. Die aufgeklärten Ängste. Die evidenzbasierten Ängste. Aber das ist es ja. Das ist das Einzige, was an dem stimmt. Das Einzige, was nicht geliehen ist. Die Angst. Die nackte, feige, spießige Angst um das eigene kleine Leben. Um die Rente. Um den Urlaub. Um das, was man hat und behalten will. Das ist ehrlich. Das ist das Ehrlichste, was der je geschrieben hat. Ohne es zu wissen. Ohne es zu wollen. Diese erbärmliche Sorge um die erbärmliche Existenz. Dafür einen Preis. Dafür nach Stockholm. Für die unverhüllte Darstellung der deutschen Seele im einundzwanzigsten Jahrhundert.
Kaltenbach stand auf.
Weltbürger, sagte er. Friedensmensch. Das wäre es. Das wäre etwas. Bedingungslos für den Frieden. Ohne Wenn. Ohne Aber. Ohne dieses feige Abwägen, wer zuerst geschossen hat und wer mehr leidet und wer die besseren Argumente hat für seinen Krieg. Aber das braucht Mut. Das braucht Eier. Das braucht etwas, das diese Leute nicht haben. Nicht diesen Stammtischmut, der nach dem dritten Bier die Welt erklärt und zuhause die Pantoffeln sucht. Nicht diesen Mut, der auf Distanz funktioniert, solange andere sterben und man selbst nur nickt. Wirklichen Mut. Den Mut, nein zu sagen. Zu allen. Zu Moskau und zu Washington und zu allen, die glauben, dass Waffen Frieden schaffen. Den Mut, sich unbeliebt zu machen. Den Mut, allein zu stehen. Haben sie nicht. Hatten sie nie. Dreiunddreißig nicht. Danach nicht. Niemals. Der deutsche Kleinbürger duckt sich. Das ist seine Natur. Das ist seine einzige Kompetenz. Er duckt sich und macht mit und sagt hinterher, er hätte ja nicht gewusst.
Agamben hat das verstanden. Homo sacer. Der Mensch, den man töten kann, ohne dass es Mord wäre. Aber diese hier machen sich freiwillig dazu. Die brauchen keinen Souverän, der sie aussetzt. Die setzen sich selbst aus. Die verzichten auf alles, was Leben wäre, um am Leben zu bleiben.
Das ist der deutsche Frieden. Das war er immer. Nicht der Mut zum Widerstand. Der Mut zur Feigheit. Der Mut, wegzuschauen, solange es einen selbst nicht trifft.
ZETTEL 7.033 Begriff: KLEINBÜRGER, NEUDEUTSCHER
Definition: Homo suburbanus germanicus. Bewohner der Mitte. Verteidiger des Eigenen durch Opferung des Fremden.
Etymologie: Klein: ahd. kleini (zierlich, fein, unbedeutend). Bürger: mhd. burgære (Bewohner einer befestigten Stadt). Der Unbedeutende hinter der Mauer. Die Mauer ist jetzt die Ostflanke.
Anmerkung: Marschiert wieder. Nicht selbst, natürlich. Lässt marschieren. Teilt Links und fühlt sich mobilisiert. Abonniert den Krieg und nennt es Haltung. Die Großväter trugen Feldgrau. Die Enkel tragen Patagonia. Der Gestus ist derselbe.
Querverbindungen: → 2.017 (Wahrheit) → 4.891 (Macht, Diskurs, Beendigung) → 5.112 (Menschenrechte) → 8.077 (KI-frei)
Zusatz: Die Ostflanke ist überall. Wo der Kleinbürger Angst hat, entsteht eine Front.